Huber | Berchtold Rechtsanwälte

Publikationen

 

Publikationen

Zu aktuellen Entscheidungen und Rechtsentwicklungen veröffentlichen wir laufend unsere Beiträge in Fachzeitschriften. Überzeugungsarbeit beginnt mit einer fundierten Meinungsbildung.

 
 

Vergaberecht: Der objektive Erklärungswert als Stolperfalle

 

Monatsbrief Initiative Baukunst 02/2022 - Initiative Baukunst / Newsletter

Wenn sich zwei Parteien mit unterschiedlichen Ansichten vor dem Zivilgericht treffen, wird das Gericht zuerst prüfen, was wirklich vereinbart wurde. Dazu werden die Streitparteien vom Gericht ausgiebig befragt, Zeugen einvernommen und Urkunden gesichtet. Letzten Endes wird im Urteil festgestellt, welcher Sachverhalt sich zugetragen hat und daraus die rechtlichen Ergebnisse abgeleitet. Nicht selten stellt sich heraus, dass beide Parteien zumindest in einigen Punkten völlig übereinstimmende Auffassungen hatten, obwohl ein Außenstehender erhebliche Differenzen erkennen würde. In einem solchen Fall spricht man von einem „natürlichen“ Konsens.

Zum Beispiel hat der oberste Gerichtshof einen natürlichen Konsens in folgender Konstellation erkannt: Auftraggeber und Auftragnehmer haben sich auf eine vorzeitige Vertragsbeendigung geeinigt. In einem Vergleich wurde vereinbart, dass der Auftragnehmer die letzte Teilrechnung in Höhe von EUR 1.020.000,00 noch erhalten soll. Allerdings war der Rechnungsbetrag dieser letzten Teilrechnung EUR 1,12 Mio und nicht wie im Vergleich angeführt nur EUR 1,02 Mio. Der Auftraggeber hoffte, sich nunmehr die Differenz von EUR 100.000,00 ersparen zu können. Obwohl die Vergleichssumme ausdrücklich schriftlich mit EUR 1,02 Mio „vereinbart“ war, hat das Gericht festgestellt, dass die Parteien ohne Zweifel die letzte Teilrechnung als Vergleich vereinbaren wollten. Da die letzte Teilrechnung eben EUR 1,12 Mio ausmachte, waren die EUR 1,02 Mio ein offenkundiger Übertragungsfehler in der Vergleichsvereinbarung. Ein Zivilgericht hat daher den jeweiligen subjektiven Willen der Streitparteien auf Übereinstimmung zu überprüfen.

In vergaberechtlichen Angelegenheiten hat ein Gericht (Verwaltungsgericht) Differenzen zwischen Auftraggeber und Bieter anders zu lösen. Der subjektive Wille der Parteien ist gar nicht zu berücksichtigen, vielmehr hat das Verwaltungsgericht den objektiven Inhalt der Erklärungen der Streitparteien zu ermitteln. Beim sogenannten objektiven Erklärungswert liegt der Fokus gerade nicht auf dem jeweiligen eigenen Verständnis der Streitparteien, sondern auf darauf, wie ein unabhängiger Dritter (ein „redlicher Erklärungsempfänger“) die Erklärung verstehen konnte. Es obliegt dem Gericht, eine strittige Erklärung nach objektiven Maßstäben auszulegen. Dies kann mitunter für Bieter zu einem völligen Unverständnis führen, weil sich die Auslegung zumeist an rechtlichen Begriffen orientiert, die aus Sicht der ausschreibenden Techniker und der bieterseitigen Kalkulanten gar nie angedacht waren. Ein Musterbeispiel dafür stellt ein Nachprüfungsverfahren zur Frage, ob die Anforderungen an das Referenzprojekt erfüllt wurden, dar. Ein Auftraggeber legt in den Ausschreibungsbedingungen zur Vergabe von Planungsleistungen fest, dass ein Referenzprojekt einen „Auftragswert“ von mindestens EUR 2 Mio haben muss. Der Auftraggeber meinte damit aber nicht das Planungshonorar, sondern eigentlich die Baukosten des Referenzprojektes. Nichts anders hat ein Bieter sich dabei gedacht. Der Begriff „Auftragswert“ ist jedoch vergaberechtlich definiert und nicht mit den Baukosten gemäß ÖNORM B 1801 gleichzusetzen. Gerade bei Planungsaufträgen kann zwischen dem Auftragswert gemäß BVergG und den Baukosten gemäß ÖNORM B 1801 ein erheblicher Unterschied liegen. In einem Projekt mit Baukosten von EUR 2 Mio und einem durchschnittlichen Planungshonorar von 10% der Herstellungskosten führt dies zu einem nachweisbaren „Auftragswert“ von „nur“ EUR 200.000. Um einen Auftragswert von EUR 2 Mio nachzuweisen, würde ein Bieter ein Referenzprojekt mit Baukosten von EUR 20 Mio benötigen. Jene anbietenden Planer, die den Begriff Auftragswert mit den Baukosten gleichgesetzt haben, erfüllen die Ausschreibungsanforderungen nicht.

In einem derartigen Fall kommt ein Verwaltungsgericht – unter Berücksichtigung des objektiven Erklärungswertes der Ausschreibungsbestimmungen – zum Ergebnis, dass ein Bieter ein Referenzprojekt mit einem Auftragswert von mindesten EUR 2 Mio an Planungshonorar beibringen muss. Der „objektive Erklärungswert“ kann dadurch zur ungeahnten Stolperfalle für alle Beteiligten werden, weil es nicht an den Beteiligten eines Vergabeverfahrens liegt, eine Ausschreibungsbestimmung so auszulegen, wie sie eigentlich subjektiv gewollt und auch von einem Bieter verstanden wurde. Letztendlich entscheidet ein Gericht „objektiv“, wie eine Ausschreibungsbestimmung ausgelegt werden soll, was nicht immer zu einem befriedigenden Ergebnis führt.

 
Sandro Huber